Münzenberg und Varoufakis

Tom Strohschneider über Europa damals und heute, »Die Zukunft« und die Idee eines demokratisch-sozialistischen Blocks

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Zweifellos erfreut über den guten Beginn und wohl auch in der Hoffnung, damit politische Wirksamkeit zu entfalten, bilanzierte die Redaktion der Zeitschrift »Die Zukunft« bereits in der dritten Ausgabe am 28. Oktober 1938 ihren Versuch, eine »Programmdiskussion für ein neues Deutschland in einem neuen Europa einzuleiten«.

Es sei gelungen, heißt es da im Pariser Exil, »aus den weitesten Kreisen und aus den verschiedensten politischen Lagern« Autorinnen und Autoren in eine Art intellektuelles Ferngespräch zu verwickeln, »eine freie Tribüne« des Austausches sollte das Blatt sein – aber auch »zur Begegnung und Annäherung der verschiedenen Strömungen« beitragen.

»Die Zukunft« war nicht nur Willi Münzenbergs letztes großes Projekt, ein Versuch, die deutschsprachige Opposition gegen die Nazis zusammenzubringen, die schon zum Krieg trommelten und den Holocaust planten. Es war sicher auch nicht nur »ein neues Betätigungsfeld für seine unerschöpfliche Energie«, wie es Arthur Koestler in seinen Erinnerungen an Münzenberg einmal formulierte.

»Die Zukunft« war vielmehr die praktische Essenz des politischen und journalistischen Wirkens eines unabhängigen Kopfes unter den damals herrschenden Bedingungen: ein nochmaliger Versuch, eine Kultur der Diskussion zu etablieren, die auf Wahrheitsansprüche und Abgrenzungen verzichtet; die von anarchistischen Kämpfern des Spanischen Bürgerkriegs und antistalinistischen Sozialisten bis zum katholischen und konservativen Widerstand und zum liberalen Bürgertum eine Brücke zu schlagen sucht; ein letztes Aufbäumen, um die deutschsprachigen Hitlergegner zu gemeinsamem Handeln zu bewegen; ein abermaliges Anrennen gegen parteipolitische Borniertheit und stalinistische Verzerrung.

Und nicht zuletzt war »Die Zukunft« das Ergebnis der unerschütterlichen Überzeugung Münzenbergs, dass gesellschaftliche Emanzipation keine Frage nationalstaatlich begrenzter Veränderungen mehr sein kann, sondern nur noch als europäische Befreiung denkbar ist.

Münzenberg hatte die Zeitschrift 1938 »als Kampforgan einer sozialistisch-demokratischen Sammlung Deutschlands gegründet«. Mit der Komintern hatte er gebrochen, die KPD betrieb bereits den Ausschluss ihres einstigen Mitgründers, der Stalinismus rückte immer mehr ins Zentrum der Kritik von Münzenberg, eine Sehnsucht nach Aufbruch jenseits von Dogma und Diffamierung kennzeichnete sein Denken, das an kämpferischer Note nicht eingebüßt hatte. In der vierten Ausgabe der »Zukunft« Anfang November 1938 ergreifen »ein freiheitlicher Sozialist, ein Katholik, ein orthodoxer Marxist« das Wort in der programmatisch angelegten Debatte, die Redaktion, ganz in Münzenbergs Geist, schreibt dazu: Man werde »aber bei aller Verschiedenheit der ideologischen Ausgangspunkte die Möglichkeiten einer Annäherung im Hinblick auf das gemeinsame Ziel« erkennen.

Dieses Ziel war gar nicht so leicht festzulegen, es bestand durchaus auch darin, eben nicht schon festgelegt zu sein: auf einen historischen Plan, auf den Vollzug einer als Abfolge von Gesetzmäßigkeiten verkannten Geschichte. Schon gar nicht reduzierte sich der Kreis, den Münzenberg und seine Redaktion um die Zeitung scharte, auf den Sieg über die Nazis und die Befreiung europäischer Länder von deutscher Besatzung, deutscher Vernichtungspolitik, deutscher Kriegsbrennerei – etwas, das Ende 1938 schon viel mehr als nur eine Möglichkeit war; es passierte bereits, in Österreich, der Tschechoslowakei, bei den furchtbaren Novemberpogromen in Deutschland.

Aber schon zu dieser Zeit breitete sich im Kreis derer, die die Zeitschrift als Debattenplattform nutzten, die Überzeugung aus, dass »Die Zukunft«, der Name war hier Programm, sich nicht in einer Antwort auf eine »deutsche Frage« erschöpfen dürfe, sondern eine europäische Angelegenheit sein müsse.

1939 gründete Münzenberg die Deutsch-Französische Union, die »all ihre Anstrengungen auf die Gründung eines politisch geeinten und föderativ gegliederten Europa« richtete »und auf die Organisation einer wirklichen übernationalen, mit der Verteidigung der Demokratie beauftragten Macht«. Verfolgt wurde die Idee einer anderen gesellschaftlichen Ordnung, in der der Mensch nicht mehr ökonomisches Subjekt des Kapitalismus und politisches Subjekt des Nationalismus ist, sondern Teil einer Föderation von Gleichen, eben eines »neuen Europa« ist, wie es im Untertitel der »Zukunft« heißt.

»Die Aufgabe der demokratisch-sozialistischen Sammlung liegt vor uns, nicht hinter uns«, hat Werner Thormann, linkskatholischer Journalist und sozusagen der Chefredakteur der »Zukunft«, in einer der letzten Ausgaben im Mai 1940 das Anliegen formuliert – kurz bevor es zumindest nicht mehr in dieser Zeitung verfolgt werden konnte. »Und wir müssen uns von vornherein darüber klar sein, dass es sich um die Erfüllung einer europäischen, nicht einer spezifisch deutschen Aufgabe handelt.« In ganz Europa, so Thormann weiter, gehe es »darum, die Demokratie, den Sozialismus neu zu denken, die richtige Beziehung zwischen der Freiheit und Würde des Einzelmenschen und den Einschränkungen dieser Freiheit im kollektiven Interesse«.

Münzenberg wurde 1940 tot in einem Waldstück nahe Saint-Marcellin gefunden. Die Idee, ein »neues Europa« von links zu begründen, als demokratisch-sozialistisches Anliegen, lebte weiter. Etwa im Manifest von Ventotene, das 1941 von den italienischen Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni verfasst wurde. Mit seiner Skizze eines europäischen Föderalismus unter sozialistischen Wirtschaftsregeln schloss es an die Debatte in »Die Zukunft« durchaus an. Im Manifest von Ventotene findet sich auch die Überzeugung wieder, das es eines europäischen Politikansatzes bedarf.

»Der Trennungsstrich zwischen den fortschrittlichen und den reaktionären Parteien«, hieß es da, verlaufe »nicht mehr längs der formalen Linie ihrer größeren oder geringeren Demokratie, des Ausmaßes, in dem der Sozialismus eingeführt werden soll; der Bruch vollzieht sich zwischen denen, die immer noch das alte Endziel im Auge haben, nämlich die Eroberung der nationalen politischen Macht, und die daher, sei es auch unfreiwillig, den reaktionären Kräften Vorschub leisten, indem sie die glühende Lava der Volksbegeisterung in den alten Formen erstarren lassen, und den anderen, denen die Schaffung eines soliden internationalen Staates als Hauptaufgabe am Herzen liegt«. In einem demokratisch-sozialistischen Sinne.

Europäische Staatlichkeit und ökonomische Integration sind heute Realität – allerdings unter anderen, unter neoliberalen Vorzeichen, asymmetrisch, Gräben eher vertiefend, eben nicht das »neue Europa«, das Münzenberg und andere seinerzeit im Sinn hatten. In der aktuellen Debatte über die von Berlin aus orchestrierte Krisenpolitik, über ökonomische Ungleichgewichte und die Fesseln von politischer Verfasstheit und Währungssystem, ist die Kritik an dem real existierenden Europa gegenwärtig.

Es ist aus dieser Kritik hier und da in der Linken auch der Schluss gezogen worden, auszusteigen: aus dem Euro, aus der EU. Yanis Varoufakis, früherer griechischer Finanzminister und einer der intellektuellen Köpfe eines »anderen Europa«, hat solche Überlegungen zurückgewiesen. Es reiche nicht mehr aus, und dies ist seine Schlussfolgerung aus den Erfahrungen des Ringens der SYRIZA-geführten Regierung gegen die von Berlin letzten Endes dominierte Front der Gläubiger, sich auf nationalstaatlicher Ebene zu bewegen. Vielmehr gehe es um eine »gemeinsame Koalition von Helsinki bis Lissabon, von Dublin bis Athen«, die es sich zum Ziel setze, aus einem Europa des »Wir, die Regierungen« ein Europa des »Wir, die Menschen« zu machen. Dabei sei es ein Gebot des Realismus, die bestehenden europäischen Institutionen so zu verändern, dass sie den Interessen der breiten Bevölkerungen dienen.

»Ich denke, wir sollten versuchen, ein europäisches Netzwerk aufzubauen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt sich zu einer gesamteuropäischen Partei entwickeln kann«, hat Varoufakis unlängst vorgeschlagen. Willi Münzenberg hätte das bestimmt gefallen.

Der Beitrag erschien zuerst am 11. September in der Tageszeitung “neues deutschland”.