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Wie lässt sich an einer Überzeugung festhalten, obwohl dies einem beinahe den Tod bringt? Der Journalist und Buchautor Sergej Lochthofen hat die Lebensgeschichte seines Vaters Lorenz mit dem Buch „Schwarzes Eis“ aufgeschrieben. Diese Woche präsentierte der einstige Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen den Roman als Auftakt der Münzenberg-Lektionen.
Wenn Sergej Lochthofen etwas kann, dann ist das Erzählen spannender Anekdoten. Abgeschaut hat er sich diese Fähigkeit bei seinem Vater, der seine Liebe zum Erzählen widerum von seinem Vater in die Wiege gelegt bekam. Für Sergej ein echter Glückfall. Als er das Angebot für ein Buch bekam, ging es dabei um nicht weniger als die Niederschrift der Lebensgeschichten dreier Generationen. Allein 300 Seiten hätten dafür nicht ausgereicht, weshalb sich Sergej Lochthofen mit dem Rowohlt Verlag am Ende auf mehr als 400 Seiten und die Beschränkung einer Erzählung der Lebensgeschichte seines Vaters Lorenz Lochthofen einigte. Schon dieses enthält genug Material, um bei Lesern das Interesse für eine Zeit zu wecken, deren noch lebende Zeitzeugen immer weniger werden. Der für den Untertitel gewählte Begriff Lebensroman müsste insofern noch um den Begriff politisches Sachbuch erweitert werden. Wer Lochthofens Buch liest, erfährt fast nebenbei, weshalb DAS größte Gesellschaftsexperiment zwangsläufig zum Scheitern verurteilt gewesen war. Dabei muss man längst nicht alle Schlussfolgerungen Lochthofens teilen, um dieses Buch lesenswert zu finden.
Der Lebensroman setzt am 22. Oktober 1937 ein: Jener verhängnisvolle Tag, an dem Lorenz Lochthofen von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD verhaftet, dann gefoltert und verhört wird, um anschließend in eines der zahlreichen lebensfeindlichen Lager gesteckt zu werden, in denen eine bis heute nicht genau bezifferte Zahl an Menschen dem paranoiden Verfolgungswahn eines Diktators zum Opfer fielen. Lorenz Glück in Workuta sollte es sein, dass er sich in der Verbannung zum Bergbautechniker hocharbeitet und damit immerhin einen Rest menschlicher Würde bewahrt. Diese zeigt er spätestens, als mit einer weiteren Ladung Gefangener einer seiner früheren Folterknechte ebenfalls im Nirgendo nördlich des Polarkreies landet und er seinen einstigen Peiniger – trotz Erlaubnis zur Rache – am Leben lässt. Darin liegt wohl die größte Stärke des Vaters. Noch unter den widrigsten Bedingunen bewahrt er sich seine Ideale und glaubt weiterhin an eine gerechtere Welt, obwohl ihm seine Vorbilder genau diese Überzeugung mit aller Macht zu entreißen versuchen.
Erst 1958 gelangt die Familie Lochthofen, Sergej ist hier gerade erst fünf Jahre alt, in die DDR, wo Vater Lorenz zunächst zum VEB-Direktor aufsteigt und schließlich Mitte der 60er Jahre ins Zentralkomitee der SED gewählt wird. Kritisch beäugt wird er von den Genossen dennoch bis an sein Lebensende im Jahr 1989. Obwohl längst offiziel rehabilitiert, bleibt an ihm ein absurder Makel haften. Auf groteske Weise zeigt sich dies an einem Film, der in der DDR über Sergejs Vater gedreht wird, wie sich Sergej erinnert. Statt im sibirischen Arbeitslager landet Lorenz Lochthofen in Buchenwald. Kommunisten durften nach damaliger offizieller Lesart keine Zermürbung durch Kommunisten erfahren.
Sergej Lochthofen hat all diese Widersprüche auf 446 Seiten gepackt. Bei der Arbeit an seinem Buch halfen ihm viel kleine Notizen, die er schon zu DDR-Zeiten anfertigte und zwischen russischen Zeitschriften vor den allzu interessierten Augen der Staatssicherheit verbarg. Nicht nur dem langjährigen Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen hilft dieses Buch bei der persönlichen Aufarbeitung der Vergangenheit. Wie Lochthofen bemerkerte, ist Schwarzes Eis ein weiteres Puzzleteil, um der Vergangenheit einen weiteren Grauton zwischen dem langjähigen Schwarz und Weiß-Denken hinzuzufügen.
Sergej Lochthofen: Schwarzes Eis – Der Lebensroman meines Vaters, 446 Seiten, Rowohlt Verlag (2012), 19,95 Euro
(Text: Robert D. Meyer, Fotos: Jenny Schindler u. Robert D. Meyer)