In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brennen überall in Deutschland Synagogen, Tausende Geschäfte werden verwüstet und geplündert – die Nazis terrorisieren die jüdische Bevölkerung immer heftiger. Die Ausstellung “Der Tag kommt” erinnert am FMP1 an die Opfer des braunen Terrors.
Steht man Eugen Friede gegenüber, sieht man dem 87-Jährigen die Spuren seines Lebens nicht an. Seine Geschichte beeindruckt: Sohn jüdischer Eltern, überlebte Nazideutschland, indem er untertauchte, in den Widerstand ging und geriet, trotz vieler Helfer, in Gefangenschaft, um schließlich an seinem 19. Geburtstag freizukommen. Bei solch einer Vergangenheit würde man einen gebrochenen Menschen erwarten. Doch Friede macht nicht diesen Eindruck. Er lässt sich die Lebensfreude nicht nehmen, erzählt seine Geschichte jenen Generationen, für die der Zweite Weltkrieg und die Jahre des braunen Terrors weit weg sind. Zum 75. Jahrestag der Novemberpogrome ist das Interesse an Friedes und damit der Geschichte eines ganzen Landes, das sich der Barbarei hingab, wieder allgegenwärtig. Wenn er von damals berichtet, dann verlieren die damaligen Ereignisse ihre schreckliche Abstraktheit, so wird konkret, was doch nur ungeheuerlich ist.
Friede erinnert sich an den Morgen des 10. November 1938. Er fährt in der Straßenbahn am Kaufhaus “Israel” im Berliner Nikolaiviertel vorbei. Überall liegen Glassplitter herum – die Nazis haben das drei Tage zuvor stattgefundene Attentat des 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris als Vorwand missbraucht, um die Übergriffe in der Nacht vom 9. auf dem 10. November zu legitimieren. Obwohl die Ereignisse an beiden Tagen als Novemberpogrome in die Geschichte eingehen, sind sie doch bei weitem nicht die ersten Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung in Deutschland, wie der Historiker Christoph Kreutzmüller von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz betont. Pogrome gab es schon in den Vorjahren, so beispielsweise 1935 und 1938.
In Berlin fühlten sich Juden dagegen lange Zeit noch einigermaßen sicher. Einerseits durch die Anonymität der Großstadt, andererseits durch die Blicke der Weltöffentlichkeit auf die Hauptstadt. So erklärt es sich auch, weshalb erst die Novemberpogrome in der internationalen Presse größere Beachtung finden. Bekannte Zeitungen, wie die New York Times, haben schon damals Korrespondenten in Berlin sitzen, doch auch die Weltöffentlichkeit schaut bekanntermaßen nur zu, ohne in die sich längst abzeichnende Katastrophe einzugreifen.
Obwohl sich die Mehrheit der Deutschen bis 1945 mindestens als Mitläufer schuldig machen wird, erlebt Friede auch Momente der Solidarität. Völlig unbekannte Personen stecken ihm auf der Straße heimlich Butterbrote und Zigaretten zu – da ist Friede aufgrund des aufgenähten “Judensterns” längst für jeden als “Nichtarier” erkennbar. (Die ganze Geschichte von Eugen Friede ist in einem Porträt von Karlen Vesper bei neues deutschland nachzulesen)
Die Ausstellung “Der Tag kommt” von Erik Schiemann löst beim Betrachten unweigerlich Beklemmung aus. Schwarzweiß-Fotografien, kleinformatig, hängen an großen, hellen Stellwänden, wodurch der Blick auf das Wesentliche konzentriert wird. Schiemann zeigt Überlebende des Holocaust an Originalschauplätzen des braunen Terrors, aber auch junge Menschen, die unmittelbar nichts mit der Judenverfolgung durch die Nazis zu tun haben. Aus unserer Geschichte heraus seien wir allerdings alle mit dem Thema verbunden, sagt Schliemann. Die sich daraus ergebende Verantwortung aller Generationen betont auch Petra Pau (LINKE), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, in ihrem Grußwort während der Vernissage am vergangenen Donnerstag. In Zeiten von NSU und der Wahlerfolge rechter Parteien in ganz Europa, sei ein Erinnern an die Verbrechen der Vergangenheit wichtiger denn je, mahnt Pau. Eine Ausstellung kann dabei helfen, genau wie die Geschichte wie die von Eugen Friede.
Die Ausstellung “Der Tag kommt” ist bis zum bis zum 5. Dezember im Foyer des FMP1 kostenlos zu sehen.
(Text und Fotos: Robert D. Meyer)